Editorial: Unterwegs an der Irischen See
Editorial: Unterwegs an der Irischen See
Werkstattbericht: The Celtic Way – die Bronzezeit südwärts
VON HEINZ BÜCK
Es war – wenn ich mich nicht irre – an Station Sechs. Oder war es doch die Sieben? „Irland war niemals keltisch“, schnarrte der Audioguide an meinem Ohr. Ich stutzte. Hatte ich recht verstanden? War nicht kürzlich noch das Fell des Celtic Tiger verteilt worden? Und nun hieß es: „Irland war niemals keltisch“? Ich musste mich wohl verhört haben!

Wir waren von Schottland nach Irland gekommen. In Ferrycarrig durften wir noch einmal zurückschauen in Zeit und Raum, die wir soeben durchquert hatten, in vergangene Epochen, die uns entglitten, je länger sie hinter uns lagen, und auf großartige Etappen an Küsten und Stränden, die erst wieder erreichbar sein würden in fernen kommenden Tagen. Doch wir mussten nach Hause. Und am Ende nun das: „Irland war niemals keltisch“.


Synchronizität und Anachronismen
Wir waren von den Äußeren und Inneren Hebriden gekommen, über Nordirland und die Isle of Man nach Dublin, alles Regionen, wo Menschen Gälisch sprechen oder dies zumindest einstmals taten. Wir hatten diese außergewöhnliche Route gewählt, um die irisch-schottischen Verbindungen zu erkunden. »The Celtic Way« haben wir sie genannt. Nicht von Süden oder Westen her, nicht von Frankreich, Wales oder England. Nein, von Schottlands Westküste aus fuhren wir an die Irische See und wollten von dort zurück auf den Kontinent. Mag sein, dass dieser besondere Weg auf die Grüne Insel auf dem Kopf steht. Touristisch geht es gewiss auch andersherum. Doch es ist eine atemberaubende Tour, nicht nur landschaftlich, besonders auch historisch:

Wir sind 3500 Kilometer von Edinburgh nach Dublin gefahren, vom Neolithikum bis in die Neuzeit. Die Route schrammt die Zeitenwende, als Cäsar 55 vor Christus Britannien im Süden erobert, aber den Norden der Insel nicht besetzen kann, auch Irland war nie römisch. Vom heutigen Fähranleger Newcastle, den wir als Startpunkt der Reise gewählt hatten, lässt der römische Kaiser Hadrian Anno Domini 122 einen 113 Kilometer langen Wall bauen, um seine nördlichste Provinz gegen den Einfall der keltischen Stämme aus dem Norden zu schützen. Und Irland war derweil nicht keltisch? Sie durchquert das frühe Mittelalter auf den Inneren Hebriden, als irische Mönche vom 5. Jahrhundert an Schottland christianisieren und das keltische Kreuz nach Norden tragen, als Columban mit zwölf Glaubensbrüdern von Irland über Kintyre nach Iona kommt und mit ihm das Gälische als Sprache ihrer Verkündung. Und dieser Audioguide erzählt, Irland sei niemals keltisch gewesen?

Kodierung, Schrift und Sprachen
Wir hatten uns nach den bleibenden Eindrücken aus Station Sechs hilfesuchend in jenem kleinen Buchladen des Irish National Heritage Park umgesehen. Neben einer Tin Whistle, Postkarten, Tee und einem Songbook „Irish Folk“ erstanden wir auf der Stelle Haywoods „Historical Atlas of the Celtic World“. Doch auch er bestätigt: „there were no major Celtic invasions.“ Nicht nur wir, auch andere zuvor hatten sich das offenbar einfacher vorgestellt. Bislang, so las ich, wurde eine sternförmige Besiedlung Europas durch keltische Stämme aus dem Voralpenland unterstellt. Und bisher hatten sich die Archäologen auf die Gemeinsamkeiten der prähistorischen Funde konzentriert. Doch seit Ende des letzten, des 20. Jahrhunderts rücken die Unterschiede in den Fokus ihrer Untersuchungen. Sie unterscheiden seitdem deutlich zwischen atlantischen und mitteleuropäischen Kelten, trennen Insel- von Festlandskelten. Sie sehen Gemeinsamkeiten überraschenderweise ganz anderswo, etwa bei den Keltiberern und Hibernia-Kelten, sprich den Spaniern und Iren. Und sie gehen das neu gestellte Rätsel nach der Herkunft des Keltischen interdisziplinär an, nachdem der vage Weg, die Invasion, verworfen wurde. „Doch wie? – at all?“.

Wir haben mittlerweile verstanden, dass zu den p-keltischen Sprachen die britannischen Sprachen Walisisch, Kumbrisch, Kornisch und Bretonisch sowie die festlandkeltischen Sprachen Gallisch, Lepontisch und Galatisch gezählt werden. Sie entführen uns weit nach Italien und damit nach Südosteuropa. Zu den q-keltischen Sprachen indessen werden Irisch, Schottisch-Gälisch und das Manx von der Isle of Man gerechnet sowie das Keltiberische. Damit landen wir tatsächlich in Spanien und somit in Südwesteuropa. Hierhin hatte die letzte Eiszeit die Menschen vor 10 000 Jahren zurückgedrängt. Zwei ganz verschiedene Linien führen später, als sich die Gletscher zurückziehen, vom Süden aus nordwärts nach Mittel- und Nordeuropa: eine von Osten und eine von Westen quer durch den sich erwärmenden Kontinent. Verschiedene keltische Sprachabdrücke bezeugen die Fährte. Schon Paul, der Ranger vom National Trust for Scotland auf Hirta, der Hauptinsel der St. Kilda Islands, hatte uns in Sachen »Celtic Way« erzählt, dass er als geborener Engländer Irisch oder Deutsch mit ein wenig Bemühen rudimentär verstehen könne, aber nicht Walisisch und nicht Bretonisch. So dick ist die Verwandtschaft diesseits und jenseits der Irischen See also offenbar gar nicht, eher die zum Baskenland.
Ich erinnerte mich erst später: Wir bekamen in Ferrycarrig noch einen dritten Hinweis, der in dieselbe Richtung wies, ebenfalls nach Süden, ebenfalls nach Spanien. Die Quelle auch hier sprachliche Überlieferung, wenngleich vermittelt und daher indirekter Art: das Lebor Gabála Érenn, das Buch der Landnahme Irlands. Selbst wenn die mündlich tradierten Stoffe der irischen Legenden und Mythen erst im 9. und später dann im 11. Jahrhundert systematisch aufgezeichnet und biblisch verbrämt wurden, so liefern sie doch interessante Anhaltspunkte über vorgeschichtliches Geschehen. Zumal beredte Erzählungen und typisierende Schriftlichkeit authentischer scheinen als die Deutungen der Archäologen: nicht minder spannend und nicht minder zu Übertreibungen neigend. Doch auch wenn erhöhte Vorsicht bei mittelalterlicher Historiografie geboten ist, horchten wir damals auf, als der Audioguide an Station Sechs von den Gefolgsleuten des spanischen König Mil erzählte. Die Milesier, so wusste er zu berichten, kamen mit ihren Booten nach Irland und nahmen den herrschenden Tuatha de Danaan die Macht. Im Lebor Gabála Érenn ist dies die letzte erwähnte Einwanderung in Irland: in diesem Falle also durch q-keltisch sprechende Spanier.
Distanzen, Diffusionen und Assimilation
Wir tranken unseren Tee aus, legten die Irish Times beiseite und verließen das gastliche Restaurant im Visitor Center, um aufzubrechen. Es war Mittag geworden. Von Ferrycarrig mussten wir noch zum Fährhafen nach Rosslare, zu unserer allerletzten Etappe auf dieser langen Reise. Gegen vier Uhr ging das Boot. Aufgewühlt von den letzten widerstreitenden Informationen gingen wir dennoch glücklich an Bord, durchdrungen von Tausenden von Eindrücken aus unzähligen Begegnungen, das Gepäck voller Inspirationen. Wehmut kam hinzu, denn wir waren beschenkt worden.
Ich weiß, Abschied nehmen heißt, Distanz gewinnen, um all dem nahezukommen, was hinter einem liegt. Fährfahrten helfen einem dabei besonders, um in Ruhe Ordnung zu schaffen, zumal wir angesichts der vielen unvermittelten Zeitsprünge nun wirklich Abstand brauchten. Über 4500 Kilometer hatten wir auf dieser Route in weit entfernten Jahrhunderten zurückgelegt, eine respektable Strecke. Durch die Ausläufer eines Hurrikans sind wir bei Windstärke sechs bis sieben und hoher Welle auf den Kontinent zurückgekehrt: durch die Keltische See. Sie wird selbst nach den Erkenntnissen aus Station Sechs nicht umgetauft werden müssen.

Wir teilen inzwischen den Verdacht, dass es zu alledem einen äußeren Seeweg in diesem uralten Siedlungsraum gab, einen, der schon zur Zeit der Megalithkultur nach Irland führte, an der Westküste entlang und von Nordirland weiter nach Schottland: über die Inselwelt der Inneren und Äußeren Hebriden, hinaus nach St. Kilda, hinauf auf die Orkneys und weiter bis zu den Shetland Islands – und natürlich zurück. Diese Jahrtausende alten Suchpfade der Menschen nach neuen Siedlungsgebieten gehörten schon 3000 vor Christus zu den damals bekannten Wasserwegen. Ja, ganz offensichtlich waren es seinerzeit die üblichen Handelsschifffahrtsstraßen. Noch jüngst wurden auf den Orkney Islands bei den Grabungen am Ness of Brodgar, im „Vatikan der Steinzeit“, dem wohl sensationellsten Fund der neolithischen Epoche, weit gereiste Artefakte ausgegraben. Unter den dort gefundenen Handelswaren war vulkanisches Glas von der schottischen Aran Isle am Forth of Clyde.

Wir selbst sind diese Route südwärts gefahren. »The Celtic Way« hatten wie sie genannt. Das trifft sogar mehr, als wir anfangs dachten. Dass sie sich über Irland nach Spanien verlängern könnte, hätten wir damals nicht geglaubt. Doch so ist das mit Entdeckungsfahrten. Es bedarf keiner Invasion. Reisetechnisch ist diese Option jedenfalls sehr attraktiv, egal wo man einsteigt: ab in die Bronzezeit und dann immer südwärts. Und da die Iren selbst grandiose Geschichtenerzähler sind, wird ihnen ihre »Costa Hibernia« als Ausgangspunkt einer solchen Reise ebenso gut gefallen wie als Zwischenstopp oder Ziel. Denn ob der entgegengesetzte Kurs – von der iberischen Halbinsel über die Bretagne auf die Grüne Insel – der bessere Weg ist, lässt sich bei einigen Pints gewiss lange diskutieren. Er ist bestimmt genauso gut. Denn die Route ist in jeder Richtung eine Empfehlung, zumal noch viele Rätsel zu lösen sind. Nur Zeit und Raum verkehren sich. Aber das lässt sich ganz bestimmt aushalten. Oder? „Überhaupt kein Problem“, bestätigt eine bekannte Stimme: „no problem at all“, lacht a Voice from the Past, mit jenem kleinen q-keltischen Akzent.